Sie leben in Zelten, gestalten ihr eigenes Programm und teilen sich die tägliche Arbeit im Zeltlager. Die Ruhe und Natur haben eine heilende Wirkung. Die Umgebung im Grünen Band kann Menschen formen und geistig nähren. Anregungen liefern die Erscheinungsformen des Lebens in der Umgebung – und diese sind gerade im Grünen Band sehr vielfältig – und der Menschen als Teil davon.
Das Centrum Bavaria Bohemia in Schönsee widmet sich der Interpretation des Europäischen Grünen Bandes, das auf mehr als 12.500 Kilometer Länge Regionen verbindet, die einst durch den Eisernen Vorhang getrennt waren. Der kleine Abschnitt des Grünen Bandes Bayern-Tschechien enthält Spuren mehrerer Dutzend untergegangener Dörfer, Glashütten und Glasschleifen und früherer Formen der Landwirtschaft, die andernorts längst verschwunden sind. Er ist Lebensraum seltener Tier- und Pflanzenarten, Erholungsort für den Menschen und eben nicht zuletzt ein einzigartiger Ort zum Entdecken und Lernen.
Das Grüne Band ist für viele Jugendliche eine neue Erfahrung, eine andere Welt als die ihnen bekannte – erreichbar ohne in die Ferne reisen zu müssen. Wir haben mit Jugendlichen aus Zeltlagern auf beiden Seiten der Grenze gesprochen – aus dem deutsch-tschechische Jugendlager von Sojka und MOG (Mit ohne Grenzen e.V.) auf dem Zeltplatz der Sudetendeutschen Jugend in Gaisthal und dem der tschechischen Pfadfinder aus Tachov bei der untergegangenen Siedlung Neufürstenhütte / Nová Knížecí Huť.
Auf eine lange Geschichte kann das das Lager im Dorf Gaisthal bei Schönsee zurückblicken. Hier fand 1949 das erste Zeltlager für sudetendeutsche Jugendliche statt, und hier wurde auch das Sudetendeutsche Jugendwerk gegründet. Leiter war Erich Kukuk (1923-1994), der nach seiner Vertreibung aus der Tschechoslowakei in Schönsee lebte, in Oberviechtach arbeitete und zu einer bekannten Persönlichkeit auf dem Gebiet der Jugendbildung heranwuchs. Am anderen Ende Bayerns, vor dem Bildungszentrum der Sudetendeutschen in Bad Kissingen, ist Erich Kukuk ein kleiner Platz gewidmet.
Die Zeiten haben sich geändert. Das Jugendzeltlager findet nicht mehr am Gaisthaler Hammer statt, sondern schon seit Jahrzehnten in einem traumhaften Gelände am Hang westlich von Gaisthal. Es ist auch nicht mehr die Sudetendeutsche Jugend, die das Zeltlager veranstaltet, obwohl die Verbindungen eng sind. Veranstalter des deutsch-tschechischen Zeltlagers im August ist der tschechische Verein Sojka („Eichelhäher“) und der deutsche Verein MOG (Mit ohne Grenzen e.V.).
Wie jeden August fand in Gaisthal auch heuer ein zweiwöchiges deutsch-tschechisches Zeltlager für Jugendliche zwischen 13 und 16 Jahren statt, gefolgt von einem Zeltlager für jüngere Kinder. Das genaue Datum des Lagers hängt vom Beginn der Sommerferien in Bayern ab, liegt aber in der Regel in den ersten vierzehn Tagen im August. Die Lagerleitung – ein deutsch-tschechisches Team – beschreibt ihr Lager mit folgenden Worten:
„Unser Lager liegt in der Nähe des malerischen Dorfes Gaisthal, etwa 20 km von der tschechischen Grenze entfernt, umgeben von wunderschöner Natur. Es gibt viel Platz für jedes Spiel, das sich unsere kleinen Herzen vorstellen können. Wir haben einen Spielplatz, Tore, eine Tischtennisplatte und viele Sportgeräte. Der Campingplatz verfügt über ein großes Gebäude, in dem wir bei schlechtem Wetter alle unterkommen können. Außerdem gibt es Toiletten, Waschräume, einen Süßigkeitenladen und eine perfekte Küche, die uns viermal am Tag mit Essen versorgt. Wir haben Matratzen für die Nacht in geräumigen Zelten für acht Personen mit Holzfußboden“.
Wir fragen nach der Geschichte und dem diesjährigen Lagerthema. Die Betreuer erzählen uns, dass sie selbst als Kinder hier im Zeltlager waren, dass es in der Gegend viele Gleichgesinnte gibt, die helfen oder gute Sachen zum Essen liefern. Das diesjährige Thema ist künstliche Intelligenz. Die Anmeldeliste für die tschechischen Teilnehmer füllt sich immer sehr schnell, in Deutschland tröpfeln die Anmeldungen etwas langsamer ein. Viele Kinder kommen aus deutsch-tschechischen Familien, für die das Lager eine Gelegenheit ist, die Kinder die selbstverständliche Nähe zum Nachbarn erleben zu lassen, nur einen Katzensprung von der Grenze entfernt. Die Kinder kommen gerne immer wieder ins Zeltlager zurück. Sie leben normalerweise in größeren Städten, die Umgebung in Gaisthal ist eine neue Erfahrung für sie.
Das Lager hat ein Jahresthema, das durch ein ausgeklügeltes Programm zwei Wochen lang bearbeitet wird. Thema und Programm bereiten die Lagerleiter vor, die an deutschen und tschechischen Universitäten studieren. Das Programm und das Jahresthema nehmen die Lagerbewohner so in Beschlag, dass sie die Umgebung kaum brauchen. In diesem Jahr ist das Thema künstliche Intelligenz auch mit dem Thema Datenschutz verknüpft. Als wir bei der Ankunft im Lager einen Jungen fragten, wie viele Kinder hier seien, sagte er uns, dass er uns nicht antworten könne, weil es sich um vertrauliche Daten handele. Vielleicht meinte er es scherzhaft, vielleicht war seine Antwort ein Zeichen dafür, dass er ganz im Thema des Zeltlagers aufging. Gleich beim Betreten des Lagers wurden wir so in das Thema eingeführt.
Das Lager auf der tschechischen Seite wird von Pfadfindern aus Tachov organisiert. Es findet bei der untergegangenen Siedlung Neufürstenhütte / Nová Knížecí Huť statt und dauert zwei Wochen. Die Umgebung ist menschenleerer, weniger zivilisiert als in Gaisthal – von der ehemaligen Siedlung blieb nur der Dorfteich und ein paar Obstbäume. Ansonsten nur Wiesen und dichte Wälder.
„Wir sind Extremisten“, sagt eine der Leiterinnen über das Lager. Das Lager findet in indianischen Tipi-Zelten statt, die Kinder schlafen auf Konstruktionen aus Holzstämmen, die mit Seilen umflochten sind, Matratzen gibt es nicht. Gekocht wird in der improvisierten Küche, die jedes Jahr auf- und abgebaut wird. Seit 1993 wird auf dem Gebiet der Ortswüstung Neufürstenhütte gezeltet. Die Kinder dürfen während des Lagers keine elektronischen Geräte benutzen, aber Strom gibt es im Lager ohnehin nicht. Das Lager findet mit einer Sondergenehmigung des Naturschutzgebiets statt. Das Trinkwasser muss in Tanks herbeigebracht werden, um die Hygienevorschriften einzuhalten. Für den LKW, der das Trinkwasser bringt, ist ebenfalls eine Sondergenehmigung erforderlich. Wenn Eltern ihr Kind besuchen wollen, dürfen sie das zwar, aber sie müssen etwa drei Kilometer durch den Wald wandern.
Teil des Lagerprogramms ist ein Ausflug mit Übernachtung an einem unbekannten Ort, bei dem Pfadfinderaufgaben gelöst werden müssen. Die Kinder der Pfadfindergruppen aus Tachov und Černošín sind an diese Art von „Extremismus“ gewöhnt. Sie treffen sich das ganze Jahr über regelmäßig in ihren Klubhäusern, vom Frühjahr bis zum Herbst wandern sie bei jedem Wetter weite Strecken und schlafen im Freien. Im Pfadfinderlager gestalten Natur und Wildnis das Programm, obwohl auch die ehemaligen Glashütten der Umgebung als historisches Thema eine Rolle spielen. Wie in anderen Lagern werden auch hier themenbezogene Spiele gespielt, aber die Kinder erleben vor allem das Privileg, in der Natur zu sein.
Und in was für einer Natur! Wenn man sich dem Lager am Teich auf einem Weg durch den Wald nähert, ist man sich nicht sicher, ob man nicht in Kanada gelandet ist.
Das erste Lager, das wir dieses Jahr besuchten, wurde von Vertriebenen gegründet, die in der Nähe des Landes sein wollten, das sie verlassen mussten. Das zweite Lager der Pfadfinder konnte erst nach 1989 gegründet werden, als der Sperrbereich des Eisernen Vorhangs aufgehoben wurde. An einem Ort, der wie eine Postkarte aus Kanada aussieht, entstanden neue Anzeichen der erneuerten Anwesenheit des Menschen im Grünen Band. Es ist eine zarte Anwesenheit. Wenn die Kinder abreisen, bauen die erwachsenen Pfadfinder das Lager innerhalb von drei Tagen ab, und auf den ersten Blick zeugt nichts mehr von der zweiwöchigen Anwesenheit der Kinder. Selbst während des Lagers sind die Besucher überrascht, wie wenig Lärm die Kinder machen. Irgendwie schafft es die umgebende Natur hier, Menschen in ihre Ruhe einzubeziehen.